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Gemeinsam gegen den Fachkräftemangel: WFG-Geschäftsführer Dr. Thomas Jablonski (l.) und der Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft, Marc Peters. Foto: KnappeGemeinsam gegen den Fachkräftemangel: WFG-Geschäftsführer Dr. Thomas Jablonski (l.) und der Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft, Marc Peters. Foto: Knappe

Sexy durch die Fachkräftekatastrophe

Fachkräftemangel war gestern – inzwischen haben wir eine Fachkräftekatastrophe. Das sagen Dr. Thomas Jablonski, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderungsgesellschaft für den Kreis Viersen (WFG), und Marc Peters, Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Niederrhein, im Interview mit Roland Busch und Georg Maria Balsen. Was ist zu tun?

Das vorherrschende Thema in vielen Handwerksbetrieben ist der Personalmangel. Wie stellt sich die Situation aus Sicht der Kreishandwerkerschaft derzeit dar?

Peters: Bisher sprechen wir immer vom Fachkräftemangel. Manche Fachleute sagen: Wir haben bereits eine Fachkräftekatastrophe. Ich glaube, das trifft es besser, zumal die Tendenz weiter steigend ist. Fehlten im Jahr 2020 bundesweit etwa 65.000 Handwerkerinnen und Handwerker, so waren es ein Jahr später schon mehr als 87.000, wie das Institut der deutschen Wirtschaft ermittelt hat. Das zeigt, wohin die Reise derzeit leider geht. Und noch eine Zahl: 2021 gab es gut 201.000 offene Stellen im Handwerk, aber nur knapp 140.000 Handwerkerinnen und Handwerker, die auf der Suche waren. Es fehlten rund 75.000 Gesellinnen und Gesellen, 7.200 Meisterinnen und Meister und fast 5.000 Absolventen von Fortbildung. Das sind dramatische Zahlen!

Welche Gewerke sind besonders betroffen?

Peters: Wir können kaum mehr sagen, dass die Situation nur in einzelnen Gewerken so ist. Klar, die Nahrungsmittelhandwerke, also Bäcker, Fleischer, auch Konditoren, haben ein großes Problem, Nachwuchs zu finden. Aber inzwischen trifft es auch viele andere Gewerke: Bau, Ausbau, SHK. Wenn Deutschland die Klimawende vollziehen will, muss es auch Menschen geben, die sie umsetzen. Nur mit politischen Appellen kommt keine Photovoltaikanlage aufs Dach und wird keine Wärmepumpe installiert.

Wie sieht die WFG das Thema?

Jablonski: Inzwischen gibt es keine Branche mehr, die das Problem nicht hat. Leider können wir die Demografie nicht mehr ändern. Umso wichtiger ist es, dass die Betriebe vor Ort sich anders darstellen und sichtbarer werden. Handwerk ist ja heute angewandter High-Tech-Bereich. Mein Lieblingsbeispiel ist die Glaserei. Da sprechen wir nicht mehr über simple Fensterscheiben, sondern über Energiesysteme. Die Frage ist, wie wird mein Betrieb wahrnehmbarer in der Öffentlichkeit, wie werden wir sexy und interessant für den heutigen Nachwuchs? Leider hat das Handwerk hier ein Imageproblem, nach dem Motto: „Da bekommt man dreckige Hände und verdient weniger.“ Dabei kann man im Handwerk sehr schnell Verantwortung übernehmen und sich verwirklichen – bis hin zur Unternehmensnachfolge. Das ist in jeder anderen Branche schwierig bis unmöglich.

Was kann die WFG tun, um die Betriebe zu unterstützen?

Jablonski: Betonen möchte ich zunächst, dass der Kontakt zwischen der Kreishandwerkerschaft und der WFG gut ist. Die Kreishandwerkerschaft ist über alles informiert, was die Wirtschaftsförderung anbietet, umgekehrt weiß man bei uns, wer und was die Kreishandwerkerschaft ist. Wir machen als WFG keinen Unterschied zwischen Technologieunternehmen, Dienstleistern und Handwerkern. Für uns sind es alles Unternehmen. Und wir haben verschiedene Instrumente entwickelt, mit deren Hilfe Betriebe wahrnehmbarer werden können. Wie komme ich in die sozialen Medien, wie sieht meine Internetseite aus, habe ich eine Karriere-Seite, wie kann ich angesprochen werden von jungen Leuten, wie finden die mich überhaupt? Zu diesen Fragen haben wir ein Beratungstool, und am Ende stehen konkrete Tipps, was man tun kann, wenn man ein wenig Geld in die Hand nimmt. Ich glaube, das Handwerk hat jede Menge Vorteile – auf Neudeutsch: Benefits – zu bieten, die wir oft gar nicht sehen, vom freien Parkplatz vor der Haustür über freie Getränke bis zum Engagement im sozialen Bereich. Eine weitere Möglichkeit ist Dienstfahrradleasing, und ganz wichtig ist betriebliches Gesundheitsmanagement im Handwerk. Das muss dann aber auch kommuniziert werden.

Peters: Handwerk ist immer Tradition und Innovation. Wenn es darum geht, das eigene Unternehmen sichtbar zu machen, sind viele Betriebe noch eher traditionell unterwegs. Das ist kein Vorwurf, es hat ja auch lange gut funktioniert. Allerdings: Seit die OECD gesagt hat, Deutschland habe zu wenige Akademiker, liegt der Schwerpunkt darauf, dass nun alle studieren müssten. Wenn aber 60 Prozent eines Jahrgangs Abitur machen mit dem Ziel zu studieren, dann bleibt nicht mehr so viel übrig für eine duale Ausbildung. Zieht man die ab, die nicht ausbildungswillig oder -fähig sind, dann sind es vielleicht noch 30 Prozent – und um diese jungen Leute buhlen 300 IHK-Ausbildungsberufe und 130 Handwerksberufe. Und auch das ist wahr: Die Zahl, die den 30 Prozent entspricht, ist heute viel kleiner als noch vor 20 oder 25 Jahren. Hinzu kommt: Die Hauptschule, früher ein klassisches Reservoir für Handwerksberufe, existiert praktisch nicht mehr, und auch in der Gesamtschule liegt der Fokus sehr auf dem Abitur. All das macht es für den einzelnen Handwerksbetrieb, sagen wir den Dachdecker in Niederkrüchten, recht schwierig, Mitarbeitende zu finden, die zu ihm kommen wollen.

Was muss sich ändern?

Peters: Das Handwerk muss umdenken – beispielsweise mit dem Projekt „Top-Arbeitgeber“ der WFG. Generell sollte unseren Innungsbetrieben noch bewusster werden, dass die WFG auch für sie einen Mehrwert darstellt und spannende Angebote macht, die für Handwerker interessant sind, auch wenn sie nicht als „Handwerksangebote“ beworben werden. Und natürlich müssen wir auch die vielfältigen Fortbildungsmöglichkeiten im Handwerk kommunizieren. Wer weiß schon, dass eine Meisterin oder ein Meister auch ohne Abitur an jeder Universität studieren kann, und dass auch Gesellinnen und Gesellen mit Berufserfahrung an einer Fachhochschule ein Studium aufnehmen dürfen? Auch Aufenthalte und Praktika im Ausland sind im Handwerk möglich. Und wenn sich dann noch herumspricht, dass man im Handwerk gutes Geld verdienen kann, sind wir einen entscheidenden Schritt weiter. Ein Handwerker verdient im Leben 1,41 Millionen Euro und ein Akademiker 1,45 Millionen Euro, also nicht so viel mehr. Der Unterschied: Die Menschen im Handwerk haben das Geld dann, wenn sie eine Familie gründen oder eine Immobilie kaufen. Wenn der Akademiker sein erstes Gehalt auf dem Konto sieht, verdient der Handwerker schon zehn Jahre lang Geld.

Jablonski: Es muss sich in den Köpfen der Handwerksunternehmer etwas ändern. An den Veranstaltungen in unserem „Forum Mittelstand“ steht nicht dran: „Für alle außer Handwerker.“ Aber die Resonanz aus dem Handwerk ist gering. Wir hören dann, 18.00 Uhr ist zu früh und ich habe so viel tun. Aber wenn mich das Thema interessiert und ich in Netzwerke rein will, dann muss ich mir auch ein bisschen Zeit nehmen und die vielfältigen Angebote wahrnehmen. Außerdem muss ich mich da bewegen, wo junge Leute sind. Wir als WFG machen reihenweise Veranstaltungen, auch zusammen mit den Kommunen. Mein Appell ans Handwerk: Nehmt diese Angebote wahr, lasst euch beraten und macht es professionell. Und noch ein Aspekt: Wenn Betriebe um Fachkräfte werben, dann sollten sie auch die Lebensqualität in unserer Region und die kurzen Anfahrtswege ins Schaufenster stellen. Ich glaube, hier hat das Handwerk mit seiner örtlichen Verwurzelung einen weiteren Riesenvorteil. Nochmal: Wir beraten gerne – und gerne auch zusammen mit der Kreishandwerkerschaft –, aber umsetzen müssen die Betriebe das dann selbst.

Was müsste aus Ihrer Sicht auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene passieren, um die Folgen der Fachkräftekatastrophe zumindest zu mildern?

Peters: Nehmen wir als Beispiel die Berufsfelderkundungen in den Schulen. Warum geht man nicht hin und macht einen der drei Tage, die jeder Schüler absolvieren muss, verpflichtend im Handwerksbereich? Ich glaube, durch das persönliche Kennenlernen eines Handwerksberufs erkennen manche, dass dieser Bereich auch etwas für sie sein könnte. Ein weiteres Stichwort ist die Meisterausbildung. Es ist löblich, dass die neue NRW-Landesregierung eine Meisterprämie von 3.000 Euro einführt – aber ich möchte, dass die Meisterausbildung genauso gehandhabt wird wie eine akademische Ausbildung, also kostenlos ist. Ein Meisterlehrgang kostet teilweise 13.000 Euro. Dieses Geld muss man erst mal aufbringen. Der Student studiert kostenlos.

Das Stichwort Unternehmensnachfolge ist vorhin schon gefallen. Eine Option für jüngere Handwerkerinnen und Handwerker?

Peters: Absolut! In den nächsten fünf Jahren stehen rund 30 Prozent aller Handwerksbetriebe zur Übernahme bereit – oder sie schließen, weil sie keinen Nachfolger finden. Das ist eine Riesenchance für Fachleute aus dem Handwerk, mit überschaubaren Finanzmitteln einen bestehenden und oft alteingesessenen Betrieb zu übernehmen und sich so selbstständig zu machen. Dennoch hält sich das Interesse oft in Grenzen. Vielleicht scheuen viele jüngere Menschen auch ein wenig die Verantwortung, die sie für sich, den Betrieb und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernehmen müssen.

Jablonski: Allerdings müssen Betriebsübernahmen von den Banken anders begleitet werden. Junge Menschen können die verlangten Sicherheiten oft nicht bringen. Da braucht es andere Finanzierungsmodelle, beispielsweise über Fondslösungen im Handwerkerbereich. Es kann ja nicht sein, dass ich mein noch nicht vorhandenes Haus verpfänden muss, um einen Betrieb zu übernehmen. Auch hier benötigen wir ein anderes Denken als in der Vergangenheit.

 

Die Initiative Top-Arbeitgeber im Kreis Viersen

Die Initiative „Top-Arbeitgeber“ macht Arbeitgeber sichtbarer. Dies gelingt am besten über eine übersichtliche Karriereseite im Internet. Die Wirtschaftsförderungsgesellschaft für den Kreis Viersen unterstützt Unternehmen dabei und gibt Tipps, wie sie sich attraktiv darstellen und Bewerberinnen und Bewerber von ihren Qualitäten als Arbeitgeber überzeugen können. Dabei geht es nicht nur darum, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen. Ziel ist auch, Fach- und Führungskräfte im Unternehmen zu halten. Weitere Informationen und Ansprechpersonen: Anke Erhardt, Tel. 02162 / 8179116, anke.erhardt@wfg-kreis-viersen.de